Angesichts der Tatsache, dass Zwillinge mehr als 3 Prozent der Bevölkerung ausmachen, ist es etwas überraschend, dass sie Gegenstand so vieler Missverständnisse sind. Geschichten über Telepathie unter Geschwistern, Partnertausch und allgemeine Unheimlichkeit gibt es schon seit Jahrhunderten. Mit den Fortschritten in der Erforschung der Ursprünge und Lebenserfahrungen von Zwillingen können jedoch immer mehr Debatten endgültig geklärt werden, und man kann sich kaum eine bessere Ratgeberin für diese Arbeit vorstellen als Nancy Segal, Direktorin des Twin Studies Center an der California State University, Fullerton, die zu einigen der grundlegenden Studien auf diesem Gebiet beigetragen hat. Ihr neues Buch, Twin Mythconceptions, ist eine unterhaltsame Untersuchung der wissenschaftlichen Grundlage – oder des Fehlens einer solchen – für mehr als 70 weit verbreitete Überzeugungen über eineiige und zweieiige Paare. Diese Themen sind für eine wachsende Zahl von Familien von Interesse – die Rate der Zwillingsgeburten in den Vereinigten Staaten ist seit 1980 um fast 80 Prozent gestiegen, was in erster Linie auf die Fortschritte bei den Unfruchtbarkeitstherapien zurückzuführen ist.

Twin Misconceptions by Nancy L. Segal Ph.D.Published by Academic Press 2017

Was wir wissen

Die Themen, die Segal behandelt, reichen von Kuriositäten bis hin zu Fragen, die über Leben und Tod entscheiden. Kann zum Beispiel jedes Mitglied eines zweieiigen Zwillingspaares einen anderen Vater haben? Das ist nicht nur möglich, sondern auch erstaunlich häufig: Die jüngste Studie schätzt, dass mehr als 2 Prozent der Schwangerschaften zweieiiger Zwillinge den genetischen Beitrag verschiedener Männer beinhalten, aber Segal behauptet, dass die Zahl wahrscheinlich höher ist, denn wenn die beiden Väter der gleichen Rasse und Ethnie angehören, können Mütter einfach davon ausgehen, dass beide Zwillinge den gleichen Vater haben.

Es sind keine ungewöhnlichen pränatalen Ereignisse erforderlich, damit Zwillinge unterschiedliche Geburtstage haben. Der längste bekannte Abstand zwischen zwei Geburten liegt bei erstaunlichen 87 Tagen. Auch die Reihenfolge der Geburt von Zwillingen spielt eine Rolle, allerdings nicht aus dem Grund, den man vermuten könnte: Es gibt kaum Beweise dafür, so Segal, dass die Erst- oder Zweitgeburt einen dauerhaften Einfluss auf die psychologische Entwicklung hat. Andererseits haben zweitgeborene Zwillinge ein höheres Risiko für Gesundheitsprobleme wie Atemnot, neonatale Traumata und Infektionen als ihre einfach älteren Geschwister.

Junge eineiige Zwillinge scheinen oft eine telepathische Verbindung zu haben, aber es gibt keinen Beweis dafür, dass sie wirklich besteht. Ihre Ähnlichkeiten verraten etwas über die Ähnlichkeit der Seelen von Zwillingen, nicht über eine Verbindung zwischen ihnen. Dies ist eine von vielen Erkenntnissen aus der Forschung über Zwillinge, die bei der Geburt getrennt wurden und getrennt aufwuchsen. Wenn solche Zwillingspaare unabhängig voneinander dieselben Bücher lesen, denselben Haushaltsroutinen folgen oder denselben Hobbys nachgehen, schreibt Segal, „können sie nicht miteinander kommunizieren, weil sie sich oft nicht bewusst sind, dass der andere Zwilling existiert – stattdessen spiegeln sie ihre übereinstimmenden Fähigkeiten, Geschmäcker und Temperamente wider.“

Eine andere weit verbreitete Vorstellung ist, dass ein eineiiger Zwilling ein Verbrechen begehen und den anderen reinlegen könnte. Nicht mehr, so Segal. Moderne DNA-Tests können den Verbrecher eindeutig vom unschuldigen Zwilling unterscheiden. Im Allgemeinen ist die Vorstellung von guten und bösen eineiigen Zwillingen und der Eifer der Kultur, diese Etiketten zur Unterscheidung von Geschwistern zu verwenden, ungenau und potenziell schädlich. Tatsächlich, so Segal, ist es bei zweieiigen Zwillingen wahrscheinlicher als bei eineiigen Paaren, dass sie sich in ihrer Persönlichkeit stark unterscheiden, weil sie unterschiedliche Gene geerbt haben.

Und könnte ein eineiiger Zwilling vorgeben, der andere zu sein und mit dem romantischen Partner dieses Geschwisters „fremdgehen“? Unwahrscheinlich, meint Segal. Es hat sich gezeigt, dass selbst geringfügige Unterschiede in den Gesichts- und Körpermerkmalen, in der Persönlichkeit und im Temperament entscheidende Faktoren für die soziale Anziehung und die Partnerwahl sind, so dass es möglich ist, dass sich jemand zu einem Zwilling hingezogen fühlt, aber nicht zu dem anderen.

Warum wir Zwillinge studieren

Segal, ein zweieiiger Zwilling, arbeitete an der bahnbrechenden Minnesota-Studie über getrennt aufgewachsene Zwillinge, die ergab, dass Zwillinge, die getrennt aufwachsen, dennoch viele Persönlichkeitsmerkmale gemeinsam haben, genau wie Zwillinge, die zusammen aufwachsen. Dies war ein aussagekräftiger Beweis für den Einfluss der Gene auf die Persönlichkeit und ein entscheidender Anhaltspunkt für die Unterscheidung von genetischen und umweltbedingten Einflüssen.

Die Logik dieser Arbeit scheint einfach, aber das Potenzial für Erkenntnisse ist tiefgreifend. Die Untersuchung von eineiigen Paaren, bei denen ein Geschwisterteil eine Krankheit entwickelt, während das andere nicht erkrankt, könnte die Türen zur Erforschung der Ursachen von Krankheiten weit aufstoßen, von denen Millionen Menschen betroffen sind.

Letztendlich, so weiß Segal, ist es nicht der Wert von Zwillingen als medizinische Forschungsobjekte, der uns am meisten an ihnen fasziniert. Es ist eher etwas Philosophisches: „Die Vorstellung, dass körperliche und Verhaltensmerkmale bei zwei Säuglingen, Kindern oder Erwachsenen genau reproduziert werden können, widerspricht unserer Erwartung, dass kein anderer Mensch auf der Welt so sein könnte wie wir.“

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