Diskussion
Die vorliegende Studie ist die erste bevölkerungsbasierte Untersuchung, die die Leistung verschiedener Nervenleitungstests bei der Diagnose von CTS vergleicht. Die Ergebnisse zeigten, dass die Messung der distalen motorischen Latenz des Nervus medianus, der sensorischen Latenz zwischen Finger und Handgelenk und der sensorischen Leitgeschwindigkeit zwischen Handgelenk und Handfläche sowie der Vergleich der sensorischen Leitgeschwindigkeit im Karpaltunnel mit der im Unterarm eine ähnliche diagnostische Aussagekraft hatten, während die Differenz zwischen der sensorischen Latenz zwischen Medianus und Ulnaris eine höhere Genauigkeit aufwies.
Es besteht kein Konsens über die Art und Anzahl der Nervenleitungstests, die zur Erstellung der neurophysiologischen Diagnose bei CTS erforderlich sind. Außerdem gibt es keinen Konsens über die Definition von Anomalien. Zusätzlich zu den Messungen der motorischen und sensorischen Latenzzeit des Nervus medianus wurden nach und nach zahlreiche neue Tests eingeführt, um die Empfindlichkeit der Nervenleitungstests zu verbessern. Die Durchführung mehrerer Nervenleitfähigkeitstests bei einer Person würde die Wahrscheinlichkeit eines falsch positiven Ergebnisses erhöhen. Messungen der sensorischen Reizleitung zwischen Handgelenk und Handfläche oder des Median-Ulnar-Vergleichs gelten als besser als Messungen der distalen motorischen und der sensorischen Latenzzeit zwischen Finger und Handgelenk, insbesondere bei der Erkennung von Patienten mit leichtem CTS.
Die Stärken der vorliegenden Studie liegen in ihrem bevölkerungsbasierten Design, den unabhängigen klinischen und elektrophysiologischen Bewertungen und der Verwendung von ROC-Kurven, die die Gesamtleistung der verschiedenen diagnostischen Tests und nicht ihre Leistung bei bestimmten Grenzwerten vergleichen. Eine mögliche Einschränkung dieser Studie, die auch für fast alle früheren Studien gilt, ist die Verwendung der klinischen Diagnose des CTS als Kriterium, anhand dessen die elektrodiagnostischen Tests bewertet wurden. Derzeit gibt es jedoch keinen übergeordneten Standard für die Bewertung von Nervenleitungstests, und die Analyse umfasste den Vergleich verschiedener Tests in derselben Population. Die Diagnose eines CTS, die für die Sensitivität der Nervenleitungstests ausschlaggebend war, wurde vom untersuchenden Chirurgen vor dem Test gestellt und unabhängig durch ein validiertes Handdiagramm unterstützt. Die Schätzung der Spezifität basierte auf den Ergebnissen von Nervenleitungstests, die an völlig asymptomatischen Personen durchgeführt wurden, die nach dem Zufallsprinzip aus der Allgemeinbevölkerung ausgewählt wurden. Der untersuchende Chirurg überprüfte die Abwesenheit von Symptomen in den Händen, indem er die Antworten der Kontrollpersonen auf den Fragebogen bestätigte.
Eine Diskrepanz besteht zwischen den Ergebnissen dieser Studie und denen vieler früherer Berichte hinsichtlich der Sensitivität und Spezifität von Nervenleitungstests und insbesondere der ähnlichen Leistung von motorischen und sensorischen Leitungstests des Nervus medianus. Obwohl die meisten früheren klinischen Studien gezeigt haben, dass sensorische Reizleitungstests empfindlicher sind als motorische Reizleitungstests, war dieses Ergebnis nicht einheitlich. Die aufgezeigte Diskrepanz könnte durch mehrere Faktoren verursacht worden sein, wie z. B. methodische Unterschiede, wobei die meisten früheren Studien auf (1) überwiesenen Patienten mit CTS und/oder kleinen Stichproben von Kontrollpersonen (in den Studien, die Kontrollpersonen einschlossen) im Gegensatz zu bevölkerungsbasierten Stichproben, (2) nicht verblindeten im Gegensatz zu verblindeten neurophysiologischen Untersuchungen und Interpretationen und (3) Vergleichen der Empfindlichkeit verschiedener Tests bei Patienten unter Verwendung bestimmter Grenzwerte im Gegensatz zum Vergleich ihrer Gesamtleistung bei Personen mit CTS und Kontrollpersonen basierten. Der Cutoff-Wert würde die Empfindlichkeit eines bestimmten Tests bestimmen; für die distale motorische Latenz liegen die in verschiedenen Studien verwendeten Cutoff-Werte zwischen 3,8 ms und 4,6 ms. Die in den Praxisparametern formulierte Forderung, dass jedes neurophysiologische Labor seine eigenen „Referenzwerte“ haben sollte, erleichtert eine standardisierte Bewertung der diagnostischen Tests nicht. Unterschiede in den demografischen Merkmalen und dem Schweregrad der Erkrankung zwischen den untersuchten Patientengruppen sind ein weiterer Faktor, der die Unterschiede in der gemeldeten Empfindlichkeit der Nervenleitungstests bei CTS erklären könnte. Obwohl die vorliegende Studie, wie auch andere Studien, die eine mäßige Sensitivität für Nervenleitungstests gezeigt haben, mit dem häufig vorgebrachten Argument konfrontiert werden kann, dass nicht die „empfindlichsten“ Tests verwendet wurden, ignoriert dieses Argument die Einschränkungen dieser diagnostischen Tests.
Die Leistung von Nervenleitungstests in dieser bevölkerungsbasierten Untersuchung gilt nicht unbedingt für ihre Leistung bei der Diagnose von CTS in klinischen Umgebungen. Die Sensitivitätsschätzungen in der vorliegenden Studie können für Populationen gelten, die der untersuchten Stichprobe ähnlich sind, da sie repräsentativ für eine allgemeine Bevölkerung mit einem breiten Spektrum von Krankheitsschweregraden sind. Die Ergebnisse der Tests in dieser Population zeigten nur wenige Personen mit fehlenden sensorischen Reaktionen (Tabelle (Tab.1),1), die häufiger bei Patienten mit schwerem CTS zu beobachten sind.
Obwohl anerkannt ist, dass Patienten mit typischem CTS normale Nervenleitungstestergebnisse haben können, ist die genaue Größe dieser Gruppe nicht speziell untersucht worden. In einem kürzlich erschienenen Konsensbericht über CTS stellten die Autoren fest, dass kein Konsens hinsichtlich der Patienten mit typischen Symptomen, aber normalen Nervenleitungstestergebnissen erzielt werden konnte. In zwei prospektiven klinischen Studien, in denen die klinische Diagnose eines CTS sowie die vollständige Linderung der Symptome nach einer Operation als Kriterium herangezogen wurden, lag die Sensitivität der Nervenleitungstests bei 78 % bzw. 74 %. Die in den Praxisparametern getroffene Aussage, dass die Sensitivität von Nervenleitungstests 85 % bei einer Spezifität von 95 % übersteigt, scheint nicht ausreichend belegt zu sein; dies kann nur mit einem hohen Maß an Sicherheit durch die Durchführung angemessen konzipierter randomisierter klinischer Studien und die Untersuchung großer Bevölkerungsstichproben asymptomatischer Personen ermittelt werden.
Die vorliegende Studie zeigte ein relativ hohes Maß an falsch-positiven Testergebnissen (18 %) für Nervenleitungstests unter Verwendung eines Cutoff-Wertes, der gemäß der ROC-Analyse als optimal angesehen wurde. Die gebräuchlichste Methode zur Schätzung der Spezifität besteht darin, Nervenleitungstests an einer Gruppe „normaler“ Personen durchzuführen, die in fast allen früheren Studien unter Krankenhausangestellten oder ähnlichen Stichproben rekrutiert wurden. Die Normalwerte wurden dann auf der Grundlage der Mittelwerte plus 2 bis 3 Standardabweichungen berechnet, die in diesen Kontrollgruppen ermittelt wurden. Aufgrund der Beschaffenheit dieser Methode wird eine hohe Spezifität erzielt, und es werden in der Regel Werte von 95 % bis 97 % angegeben. Wenn jedoch ein Test, dessen Spezifität mit dieser Methode in einer Kontrollgruppe berechnet wurde, dann in einer anderen Population „normaler“ Personen eingesetzt wird, kann sich die Spezifität deutlich verschlechtern.
Falsch positive Ergebnisse von Nervenleitungstests bei CTS wurden bereits berichtet. In einer bevölkerungsbasierten Studie aus England wurde bei einer postalischen Befragung von 1000 Personen (Alter: 18 bis 75 Jahre) festgestellt, dass 18 % der 648 Befragten über Taubheitsgefühle, Kribbeln oder Schmerzen in mindestens 2 der 3 radialen Finger berichteten. Die elektrophysiologische Untersuchung von etwa der Hälfte der symptomatischen Personen und von 40 zufällig ausgewählten asymptomatischen Personen zeigte eine Medianusneuropathie (definiert als distale motorische Latenzzeit über 4,5 ms oder sensorische Latenzzeit zwischen Handgelenk und Finger über 3,7 ms) bei nur 18 % der Personen mit CTS-Symptomen und bei 20 % der asymptomatischen Personen. In einer Studie mit 50 asymptomatischen Personen (Durchschnittsalter 34 Jahre) wurde eine Spezifität der median-ulnaren Latenzdifferenz zwischen Handgelenk und Handfläche von 0,5 ms von 100 % angegeben; die Verwendung desselben Tests und Grenzwerts in einer nachfolgenden Studie mit 1021 Stellenbewerbern führte bei 16 % zu falsch positiven Testergebnissen. In einer anderen Studie mit 824 Arbeitnehmern (Durchschnittsalter 38 Jahre) ergaben derselbe Test und derselbe Grenzwert ebenfalls bei 16 % der asymptomatischen Arbeitnehmer abnormale Testergebnisse (ein Grenzwert von 0,8 ms führte ebenfalls zu falsch positiven Testergebnissen). Überraschenderweise wurden in der kürzlich durchgeführten umfangreichen Literaturübersicht, auf der der aktualisierte Praxisparameter basiert, die oben zitierten Studien, die eine hohe Rate an abnormalen Nervenleitungstestergebnissen bei völlig asymptomatischen Personen gezeigt haben, nicht berücksichtigt.
In der vorliegenden Studie hätte ein aus den für die Kontrollstichprobe berechneten Standardabweichungen abgeleiteter Cutoff-Wert eine deutlich schlechtere Empfindlichkeit ergeben. In Ermangelung eines allgemein akzeptierten Kriteriumstandards für die Diagnose von CTS und wie bei anderen nicht perfekten diagnostischen Tests sollte ein Cutoff-Wert gewählt werden, der Sensitivitäts- und Spezifitätswerte ergibt, die für klinische Zwecke als akzeptabel angesehen werden können. Die Ergebnisse der ROC-Analysen zeigten, dass die Sensitivität von Nervenleitungstests bei akzeptablen Spezifitätswerten nicht sehr hoch ist. Diese Ergebnisse, die einem früheren Bericht ähneln, stützen die Ansicht, dass die Diagnose des CTS klinisch gestellt werden sollte, wobei Nervenleitungstests bei Bedarf als objektiver Nachweis und in weniger typischen Fällen zur Unterstützung der Diagnose herangezogen werden sollten. Die Ergebnisse beruhen jedoch auf einer klinischen Diagnose, die von einem erfahrenen Handchirurgen gestellt wurde. Da in der klinischen Praxis Ärzte mit unterschiedlicher Erfahrung Patienten mit CTS behandeln, gewinnt die diagnostische Rolle von Nervenleitungstests an Bedeutung.
Wenn man sich bei der Diagnose von CTS ausschließlich auf die klinische Untersuchung verlässt, kann dies nicht nur dazu führen, dass die Diagnose CTS bei einigen Patienten nicht gestellt wird, sondern auch zu einer falschen Diagnose und unnötigen Operation bei anderen. Andererseits kann das alleinige Vertrauen auf Nervenleitungstests dazu führen, dass einigen Patienten, die tatsächlich ein CTS haben, eine chirurgische Behandlung verweigert wird, weil ihre Testergebnisse normal sind. Trotz der Einschränkungen des Nervenleitungstests ist er das einzige derzeit verfügbare Instrument, das einen direkten Nachweis der medianen Neuropathie am Karpaltunnel erbringen kann, um die Diagnose eines CTS bei symptomatischen Patienten zu stützen. Die Nervenleitfähigkeitsprüfung ermöglicht auch eine Bewertung des Schweregrads der medianen Neuropathie, was bei der Entscheidung über die Art der Behandlung hilfreich sein kann. Darüber hinaus können Nervenleitungstests in der klinischen Forschung zur Bewertung der Wirksamkeit von Behandlungen bei CTS als Teil der Einschlusskriterien nützlich sein, um die allgemeine diagnostische Sicherheit zu verbessern; dadurch kann das Risiko einer Fehlklassifizierung minimiert werden, die die Fähigkeit der Studie, echte Unterschiede zu erkennen, verringert. Die Ergebnisse solcher Studien können jedoch nicht auf Patienten verallgemeinert werden, bei denen die Diagnose nur aus klinischen Gründen gestellt wird, was in der klinischen Praxis wahrscheinlich häufiger vorkommt.
Der Vorhersagewert diagnostischer Tests hängt von der Prävalenz der Krankheit ab. Der niedrige positive Vorhersagewert für Nervenleitungstests ist bei einer Krankheit mit einer Prävalenzrate von weniger als 5 % in der Allgemeinbevölkerung nicht ungewöhnlich. Dies deutet darauf hin, dass Nervenleitungstests nicht für Screening-Zwecke bei Nicht-Patienten geeignet sind. Der positive Vorhersagewert wäre viel höher, wenn die Tests bei Patienten mit Symptomen wie Taubheit und Kribbeln in den Händen angewandt würden.
Die Messung der Median-Ulnar-Latenzdifferenz hat nicht nur eine höhere diagnostische Genauigkeit als die isolierten motorischen und sensorischen Tests des Nervus medianus, sondern auch den Vorteil, dass sie weniger von Faktoren wie Alter, Größe, Gewicht und Handtemperatur beeinflusst wird. Es wurde vermutet, dass eine Beteiligung des Nervus ulnaris bei einem CTS vorliegen könnte, wie die Symptome und Sensibilitätsverluste an den ulnaren Fingern und das Verschwinden dieser Befunde nach einer Karpaltunnelentlastung zeigen. Die Ähnlichkeit der motorischen und sensorischen Latenzen des Nervus ulnaris bei den Personen mit klinisch gesichertem CTS und den Kontrollpersonen in der vorliegenden Studie deutet darauf hin, dass Leitungsanomalien des Nervus ulnaris im Zusammenhang mit CTS selten sind.
Das standardisierte Diagramm der Handsymptome zeigte eine hohe Sensitivität, aber eine geringe Spezifität bei der Diagnose von CTS in dieser bevölkerungsbasierten Stichprobe von Personen mit Taubheitsgefühl und Kribbeln in der Hand. Wenn das Diagramm in der Bevölkerung zum Screening auf CTS verwendet wird, sollte die endgültige Diagnose daher durch eine ausführliche Anamnese durch einen Arzt bestätigt werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Nervenleitungstest eine mäßige Sensitivität und Spezifität und einen geringen positiven Vorhersagewert bei bevölkerungsbasiertem CTS aufweist. Unter den verschiedenen motorischen und sensorischen Nervenleitfähigkeitstests scheint die Messung der median-ulnaren sensorischen Latenzdifferenz die höchste diagnostische Genauigkeit zu haben.
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